Sonntag, 11. März 2012

Lebensart und Lebensort

Eine kurze, durchaus polemische Analyse zum Sarrazin-Zitat

"Jeder soll leben wie er möchte, aber nicht unbedingt bei uns"
 welches an verschiedenster Stelle genutzt und instrumentalisiert wird.

Betrachten wir zunächst den Hauptsatz. Dieser scheint angenehme Züge zu tragen. Räumt er doch, aus dem Munde des Thilo Sarrazin, vordergründig mit dem Vorurteil auf, Immigrations-Kritisierer, "Sarrazinisten" und sonstige Konsorten hätten ein Problem mit individuellen Lebensweisen und Kulturen. Stattdessen möchte er zeigen, wie wenig man vorhabe, irgendjemandem Vorschriften zu machen und spricht für persönliche Autonomie. Scheinbar. Der zweite Teil des Zitates klärt solche hoffnungsvollen Vermutungen restlos und radikal. Den vorher akzeptablen individuellen Lebensarten wird nur ein bleischweres "uns" entgegengeworfen, versehen mit der unerheblichen Abschwächung "unbedingt". Impliziert sind drei bemerkenswerte Konzepte:
a) Zuvorderst wird die Toleranz plötzlich von ihrer Universalität befreit, die sie zuvor noch zu tragen schien, und strikt ortsgebunden. Frei nach dem polemischen Motto: "Beim Türken ist es lecker, nur bitte nicht in meiner Nachbarschaft".
b) Damit geht die unausweichliche Frage einher, um welchen Orte es sich denn handeln solle. Wo liegt dieses "bei uns". Augenscheinlich kann es sich nicht allein um die Bundesrepublik Deutschland handeln, denn spräche Sarrazin so brachial, würde er den "Kulturen der barbarischen Ausländer" den vorbildlichen Rechtsstaat Deutschland entgegensetzten und folglich auf geradezu kolonialistischen Pfaden wandeln. Stattdessen arbeitet man subtiler. "Bei uns" soll, so scheint es mir, eine Definition Deutschlands über ein diffuses Kulturbild leisten, welches ein jeder mit seinen eigenen Vorstellungen des Germanentums auszuschmücken vermag. Aus ebendiesem Grunde wirkt der Satz so ansprechend, denn nun ist es möglich, die Gruppe des "uns" zu konstruieren und sie mit spaltender Absicht jeder beliebigen anderen Gruppe zum Kontraste gegenüberzustellen. Es ist leicht möglich, die Schleier jenes verschwommen glorifizierten Bildes zu lüften; man muss lediglich um eine präzise Definition bitten. Selbst wenn diese geleistet werden kann, z.B. über das Grundgesetz oder die Staatsbürgerschaft, so verliert sich der das Zitat vorbringende schnell in Widersprüchen oder Unbeweisbarkeiten. Fälle, in denen weitere Argumente oder eine im ersten Moment zulässige Definition genannt werden, möge man mir mitteilen.
c) Unterschwellig klingt noch ein weiteres bizarres Verständnis in jenem Ausspruch an. In der Konfrontation zwischen vorgeblich tolerierter individueller Lebensweise und dem imaginierten "uns" wird zweiteres indirekt ersterem vorgezogen, oder zumindest als vorteilhaft dargestellt. Dies wird umso deutlicher, je mehr man sich in die weiteren Aussagen vonseiten Sarrazin und co. hineinarbeitet. Und vermittels dieser Bevorzugung erhebt sich die totgeglaubte Trennung zwischen Barbaren und zivilisierter Welt, wenn auch nur schemenhaft, erneut.

Kurz gesagt: Das Zitat suggeriert zunächst Toleranz, schützt diese aber nur vor, um dem Leser die Konstruktion und folgende Gegenüberstellung einer vagen, mit "uns" bezeichneten Gruppe  & falsches "uns"und den zuvor indirekt angesprochenen "unerwünschten" Lebensweisen zu ermöglichen.

(Anmerkung des Verfassers: Man wird dem Text die Uhrzeit durchaus anmerken. Ich bitte daher um Nachsicht und kündige an, morgen Verbesserungen und Klarstellungen vorzunehmen)